Brief an eine imaginäre ehemalige Freundin
— Die LumpenpazifistIn —
Liebe Lina,
Es gibt inzwischen eine wachsende Wahrscheinlichkeit, dass wir in Europa und den USA im nächsten Herbst/Winter fast alle nicht mehr leben werden. Und die, die dann bereits tot sind, wird man zu den Glücklichen zählen müssen. Für den Rest wird Überleben bedeuten in Elend und Gewaltverhältnissen zu versinken, in denen sich Kinder für eine Flasche Wasser prostituieren müssen und andere für eine Konservendose ihre NachbarInnen töten werden. Denn nach dem Atomkrieg wird nichts mehr funktionieren, kein Strom, kein Wasser, keine medizinische Versorgung und es wird niemand geben, der/die für irgendetwas zuständig ist. Nur Menschen, die das Leben zwischen verwesenden Leichen in den Irrsinn getrieben hat, und Rackets, die sich mit Gewalt nehmen, was noch da ist. Die Wahrscheinlichkeit mag bei 'nur' 1% liegen oder sogar etwas darunter, angesichts der Aussage nicht allein des neuen deutschen Kriegsministers, 'keine Angst vor einem Atomkrieg zu haben', ist aber zu befürchten, dass sie viel höher ist. Denn aus dieser Aussage spricht die vollständige Realitätsverleugnung der EntscheidungsträgerInnen und des klatschenden Publikums. Wer keine Angst vor einem Atomkrieg hat ist entweder psychisch krank oder verweigert, sich die realen Folgen eines Atomkrieges bewusst zu machen. Beides macht, wenn es EntscheidungsträgerInnen der NATO-Staaten und erhebliche Teile der Medien betrifft, Angst.
Die NATO und Deutschland haben sich in der Ukraine in einen externen Konflikt militärisch eingemischt. Und, unabhängig von der Legitimität, tragen damit diejenigen, die dies politisch zu verantworten haben, und all diejenigen, die es unterstützt haben, die Verantwortung für alle Folgen dieser Einmischung, auch für die nicht gewollten. Die NATO wurde nicht angegriffen, ist aber inzwischen real Kriegspartei, da sie die Feuerleitstrukturen für die von ihr gelieferten Systeme stellt, indem sie die Zielkoordinaten für gelieferte Raketen in Echtzeit übermittelt, die Panzer wartet, Truppen ausbildet und versorgt u.a.. Die EU ist in vergleichbarer Weise Hinterland für das ukrainische Militär, wie Russland es für die eigenen Truppen ist. Doch die Medien und die Verantwortlichen in Deutschland tun so, als wäre dies nicht wahr, als wären sie nicht längst KriegsteilnehmerInnen, sie tun so als würde das, was als Realität zu bezeichnen ist, davon abhängen, ob sie dem zustimmen. Dies ist gefährlich, führt es doch dazu, dass PolitikerInnen und Medien in Deutschland immer mehr und langreichweitigere Waffen fordern und primär an der Eskalation des Krieges interessiert zu sein scheinen. Wesentlich ist dafür, dass sie sich selbst als unbeteiligt sehen.
Dabei wird eine Eskalation zur Zeit nur vermieden durch einen informellen Kompromiss zwischen dem Pentagon und der russischen Militärführung. Die NATO verzichtet darauf langreichweitige Waffen zu liefern, die das russische Hinterland gefährden und Russland greift im Gegenzug nicht die der Ukraine zuarbeitenden Militär- und Feuerleitstrukturen auf NATO-Territorium an. Beide Seiten treibt dabei das Interesse eine atomare Eskalation zu vermeiden. Denn die Aussage Russlands ist klar, sollte Russland sich durch den Einsatz langreichweitiger konventioneller Waffen ernsthaft bedroht sehen, würde es mit entsprechenden konventionellen militärischen Maßnahmen gegen die die Ukraine unterstützende Infrastruktur der NATO antworten (Lawrow u.a.). Würde die NATO darauf mit einem großen konventionellen Schlag antworten, dem Russland konventionell nichts entgegenzusetzen hätte, hätte dies den Einsatz taktischer Atomwaffen gegen europäische Natostaaten zur Folge (vermutlich Polen und/oder Deutschland). Sollte daraufhin ein Gegenschlag erfolgen, stünde das gesamte atomare Potential Russlands zur Antwort bereit.
Mit jedem Tag an dem noch mehr Waffen und noch modernere und weiter reichende Systeme für die Ukraine gefordert und kurz darauf geliefert werden, steigt die Gefahr einer solchen Eskalation. Und Du, Lina, gehörst zu denjenigen, die diese Forderungen unterstützen, diese Politik befördern. Ich sage ganz klar, dass ich nicht erwarte, dass Du Deine Einstellung änderst. Dafür hast Du Dich viel zu festgelegt.
Ich fordere nur eins von Dir: Nach dem Atomkrieg, steh zu Deiner Entscheidung. Erkläre Deiner siebenjährigen Tochter warum es richtig ist, dass sie nun nie acht Jahre alt werden wird, warum niemand da ist ihren gebrochenen eiternden Arm zu versorgen, was ihre Schüttelfrostanfälle zu bedeuten haben und warum sie die Gewalteskalation im schon weitgehend geplünderten Supermarkt miterleben musste, in dem ihr auf eine Straßengang gestoßen seid, erkläre ihr warum es richtig ist, das sie mit ansehen musste, was Dir dort angetan wurde. Steh auch dann zu Deiner Verantwortung, von der Du soviel redest, wenn Du von 'unserer' deutschen Verantwortung sprichst, und sag Ihr, warum das alles notwendig war und deshalb alles gut ist, warum Du Dich dafür entschieden hast. Das ist alles, was ich von Dir fordere.
Liebe Grüße, Deine LumpenpazifistIn
PS: Zur Psychologie der Verdrängung
Ein Teil der Verdrängung der Gefahren eines Atomkrieges ist vermutlich fatalerweise gerade durch seine zunehmende Wahrscheinlichkeit bedingt. Mit unfassbaren Grauen konfrontiert, reagieren Menschen teils rein aus psychologischem Selbstschutz mit Verleugnung. Das heißt gerade weil ein Atomkrieg eine existentielle Bedrohung der gelebten Realität/Normalität durch ihre Auslöschung bedeuten würde, ist er soweit vom emotional fassbaren entfernt, dass die Gefahr je mehr sie zunimmt, um so entschiedener geleugnet werden muss. Insofern würde es mich nicht überraschen, falls ein Text wie dieser bei einigen Menschen Wut, Hohn und Zensurphantasien auslöst, da er die Verdrängungsanstrengungen zu Nichte macht. Alle, denen dies so geht, sollten vielleicht versuchen einen Schritt zurückzutreten und sich fragen, weshalb sie dies so emotional betrifft.
PPS: Noch zwei Nachsätze zu Russland und der NATO
- Würde ich es bedauern, wenn Russland den Krieg verliert? Nein. Und wenn dies ohne Risiko eines Atomkriegs möglich wäre, wäre dieser Krieg nur ein Krieg unter den vielen, die ich aus grundsätzlichen antimilitaritischen Überlegungen ablehne. Da jede Eskalation weitere Tote fordert, auch die Gewalteskalationen 'nur' mit konventionellen Waffen.
- Würde ich es begrüßen, wenn die NATO gewinnt? Nein, ich halte die negativen Einschätzungen Russlands und die Verurteilung des Angriffskrieges im öffentlichen Diskurs in großen Teilen zwar für richtig, halte aber gleichzeitig die Einschätzung dessen für was die NATO steht und kämpft für viel zu positiv. Ja, ich lebe lieber in Deutschland als in Russland, da ich hier freier, selbstbestimmter und sozial sicherer leben kann. Ich weiß aber schon nicht, ob das auch gelten würde für die unteren 10% in den USA und in Russland, für diese ist es evtl. egal, ob sie in Russland oder den USA von Drogen und von Obdachlosigkeit bedroht sterben. Und wenn ich die gesamte Einflußsphäre und Geschichte des globalen Kapitalismus, für den die NATO steht, betrachte, wird schnell klar, dass die Wahl zwischen Russland und der NATO eine zwischen Pest und Cholera ist. Ich denke an den Umsturz im Iran, der den Schah an die Macht gebracht hat und in der Folge zum Mullahregime geführt hat, den Massenmord an KommunistInnen in Indonesien, Pinochet, die Kriege in Vietnam, im Irak, Jugoslawien, Afghanistan, u.a., die systematische globalkapitalistische Aneignung der Arbeitskraft und der Rohstoffe in Abhängigkeit gehaltener Länder und die damit einhergehende Verelendung weiter Teile der Welt durch einseitig ausgerichtete Finanz- und Handelsregime und durch Korruption und Kooption lokaler Eliten, ... .
Wie kommst Ihr darauf in der NATO eine Kraft zur Verteidigung von Menschenrechten zu sehen?
Wenn ich vor der Wahl stünde in Guatemala oder Russland zu leben, würde ich Russland vorziehen. Natürlich ist es legitim, wenn ein erheblicher Teil der Menschen in der Ukraine es vorziehen in einem Land zu leben, welches ihnen die Perspektive EU mit ihren ökonomischen und bürgerrechtlichen Vorzügen eröffnet. Und ich fände es richtig, ihnen die Teilhabe zu ermöglichen, wie auch allen anderen Menschen auf der Welt. Das ist aber kein Grund, dem Teil der russischsprachigen UkrainerInnen, die es vorziehen an Russland angeschlossen zu leben, dies zu verweigern. Das Minsker Abkommen hätte hier ein Weg sein können, der jedoch auch von der ukrainischen Regierung und der NATO unterminiert wurde, ob die prorussische Seite bereit gewesen wäre, sich daran zu halten, wurde nie ernsthaft ausgetestet.
PPPPS: Sind das nicht alles Schimären, die du da äußerst?
Sollte sich dies alles als falsch erweisen, würde ich mich freuen.
Originaltext der LumpenpazifistIn — Hannover, April/Mai 2023
Aktualisiert 30.04.2023