Vaterlandsverrat statt Friedhofsruhe ist nur ein Anfang

— Die LumpenpazifistIn —


Es gibt nur ein richtiges Handeln für Menschen, die zur Verteidigung der Nation zum Militär einberufen werden — zu desertieren! Der Nationalstaat ist ein Götze, dem auch heute noch Menschenopfer gebracht werden. Nationalstaaten sind Konstrukte, die in Blutbädern als ihr eigener Mythos erschaffen wurden.

Nationalstaaten sind eine Struktur der Organisation von Gesellschaften, die sich erst im Umbruch zur Moderne vom 17ten bis 19ten Jahrhundert herausgebildet hat. Die Gesellschaftsformationen davor als Nationalstaaten zu bezeichnen geht an den historischen Realitäten vorbei und ist ein Konstrukt der Geschichtswissenschaft, die eben zu diesem Zweck parallel zur Entwicklung von Nationalstaaten als legitimatorische Struktur für diese geschaffen wurde. Geschichtswissenschaft war im 18ten und 19ten Jahrhundert zuerst eine Institution der Konstruktion einer Geschichte der Nation, eine Institution, deren primäre Aufgabe die Schöpfung einer nationalen Mythologie war.

Zur Zeit der Herausbildung war die Struktur des Nationalstaates Teil einer Modernisierung der Gesellschaftsverhältnisse im Sinne der Aufrichtung einer neuen Phase der Akkumulation von Mehrwert. Sie war ein wesentlicher Baustein neben den Veränderungen im Mensch-Naturverhältnis, den Veränderungen der Subjektkonstitution und der Änderung der Art der Herrschaftsverhältnisse u.v.a. im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und Grundvoraussetzung für die Aufrichtung bürgerlicher Herrschaftsregime. Der Nationalstaat ist historisch insofern zugleich Teil einer Befreiung von Herrschaft, insbesondere von der Standes- und Adelsherrschaft, als auch ihrer Wiederaufrichtung als bürgerlich kapitalistischer Disziplinar- und Normalisierungsgesellschaft.

Fast alle Nationen wurden in Blutbädern geschaffen, ihr Mythos bedarf der Anderen, die ausgeschlossen, vertrieben, getötet und/oder marginalisiert werden mussten, um die Einheit der Nation zu produzieren. Die Zugehörigkeit zur Nation wurde über diese Abgrenzung von den Anderen hergestellt:

— In den USA wurde im Sinne des Frontiermythos der Nationalstaat mit dem Blut der indigenen Bevölkerung getauft;

— Im United Kingdom diente dazu den Briten, die sich so erst als Einheit konstituieren konnten, das bis zum Hungertod von Millionen ausgequetschte Weltreich;

— Frankreich verwandelte in den napoleonischen Kriegen ganz Europa in ein Schlachtfeld;

— Und Deutschland, die verspätete Nation, brauchte zur Nationswerdung zwei Weltkriege und den Holocaust, nachdem im Kaiserreich eine Nationsbildung nur in Bezug auf die Schichten von BürgerInnentum und Adel erfolgt war.

Den Opfern der Gewalt wird dabei eine doppelte Funktion zugewiesen. Zum einen ihre Funktion als die Anderen, eine Abgrenzung, der gegenüber die imaginäre Einheit der Nation gestellt wird und so überhaupt erst real hergestellt wird. Wer wird sich nicht als schon immer zum nationalen Kollektiv dazugehörig begreifen, wenn die Nichtzugehörigkeit die potentielle Auslöschung bedeutet. Zum anderen bedarf es der Opfer aber auch gerade weil sie ein Verbrechen makieren, und das unbewusste oder bewusste Wissen um dieses gemeinschaftlich zu verantwortende Verbrechen die Nation im innersten zusammenhält. Was könnte Menschen mehr zusammenschweißen als ein gemeinschaftlich begangener Massenmord, der Gründungstat fast jeder Nation. So sehen in der Realität 'erfolgreiche' Prozesse der Nationsbildung aus.

Und das Konstrukt der Nation bedarf in langen oder kurzen Rhythmen immer wieder neuer Opfer, um sich nach Krisensituationen zu stabilisieren. Eine der dafür genutzten Praxen ist die Wehrpflicht. Es gibt keinerlei legitime Begründung dafür Menschen zu zwingen für eine Nation zu kämpfen, diese Opferpraxis ist nicht weniger verachtenswert als die Opferpraxen früherer Kulturen.

Heute kämpfen in der Ukraine auf beiden Seiten in großer Zahl Menschen, die dazu mit massiver Gewaltandrohung gezwungen wurden, sich gegenseitig umzubringen. Menschen, die ansich nur friedlich ihr Leben leben wollen und die der nationale Wahn beider Seiten nicht interessiert, zumindest nicht ausreichend interessiert, um sich dafür opfern zu lassen oder andere zu töten. Die mehrfachen Verschärfungen der Gesetze zur Verfolgung von Männern, die sich dem Einzugsbefehl entziehen, sowohl in Russland als auch in der Ukraine lassen keinen anderen Schluss zu. Dies ist nicht nur Mord, sondern Massenmord und die Verantwortlichen in Russland und der Ukraine sind als das zu benennen, was sie sind, Mörder. Wer Menschen gegen ihren Willen mit massiver Gewaltandrohung zwingt in einem Krieg zu kämpfen, den sie nicht als den ihren sehen, sie an eine Front schickt, um zu sterben, begeht Mord. Dieser Irrsinn muss gestoppt werden. Dies ist genau der Wahnsinn den Tucholsky in seinem Text "Der bewachte Kriegsschauplatz" schon für den ersten Weltkrieg beschrieben hat. Aber auch der Krieg insgesamt ist als das zu benennen, was er ist, ein Verbrechen. Und zu desertieren ist die einzige richtige Handlung.

Kein Gen, kein Gott, kein Vaterland bestimmt wer wir sind. Wir sind nicht unsere Hautfarbe (bzw. Rasse), nicht unser Geschlecht und nicht unser Geburtsort (bzw. Nation). Wer Du bist, steht nur Dir alleine zu zu bestimmen und durch Dein Handeln zu leben, niemanden sonst. Stolz zu sein auf einen Geburtsort (eine Nation), eine Hautfarbe (eine Rasse), ein Geschlecht, ist nicht nur falsch, sondern den Menschen diese Spaltung einzureden ist ein zentrales Instrument mit dem sich auch heute noch und wieder die Wenigen die Herrschaft über die Vielen sichern. Nur so können sie sie aufeinander hetzen.

Sich selbst über etwas zu definieren zu dem ein Mensch nichts beigetragen hat, das ihr/ihm qua Geburt zugeordnet wurde, ist Selbstverleugnung und ein Versuch die Verantwortung für das eigene Handeln auf eine Art externe Kraft abzuschieben. Jedoch, nur was ich selbstbestimmt tue definiert mich und nur auf dies kann ich mich berufen, um zu zeigen, wer ich bin. Insofern geht es nicht nur darum aus dem Militärdienst zu desertieren, sondern all diese abwegigen Zuweisungen abzuweisen, zu desertieren nicht nur aus der Nation, sondern auch aus den Geschlechtserwartungen und den rassistischen Zuweisungen. Die Verweigerung dieser Zuweisungen ist Voraussetzung für eine Gesellschaft in der Menschen frei und gleichberechtigt leben können.(1)

Doch dies alleine reicht nicht. Das Kapital agiert längst global und hält die alte nationale Ordnung, die alten Spaltungen, nur noch in den Bereichen aufrecht, wo sie zur Absicherung der Herrschaft nützlich sind. Die fortschrittlichsten Teile der Nomenklatura des globalen Kapitals instrumentalisieren dabei sogar den Widerstand und den Kampf zur Überwindung von Nationalismus, Rassismus und Sexismus für ihre Zwecke der Modernisierung kapitalistischer Herrschaft in einem globalen System.

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist dafür ein treffendes Beispiel. Zwar richtet sich die Unterstützung zumindest von Teilen der NATO und des globalen Kapitals real gegen das alte Konzept einer multipolaren Welt von Nationalstaaten, für das Russland steht. Und beim Krieg geht es real um die Durchsetzung der vom globalen Kapital aufgestellten sogenannten globalen 'regelbasierten' Ordnung gegen die Regionalmacht Russland, die als klassischer Nationalstaat agierend versucht, das Nachbarland den eigenen Interessen unterzuordnen. Dessen ungeachtet geht es dem globalen Kapitalfraktionen jedoch gleichzeitig auch um die Durchsetzung ihrer Interessen, um den ungehemmten Zugriff auf die Ukraine. Der Notstand des Krieges wurde von der Ukrainischen Regierung genutzt, um Gewerkschafts- und ArbeitnehmerInnenrechte dauerhaft massiv zu schwächen, dem internationalen Kapital den Zugriff auf die Schwarzerdeböden zu ermöglichen (Landgrabbing) und kapitalismuskritische Gruppen zu verfolgen und außer Landes zu jagen. Gleichzeitig werden aber Sexismus und Rassismus zumindest verbal verurteilt.

Im Gegensatz zur alten Nationalstaatlichen Ordnung ist die regelbasierte Ordnung des globalen Kapitals tatsächlich weniger auf die Aufrechterhaltung sexistischer und rassistischer Strukturen angewiesen, die Kleinfamilie, Kernelement des alten Nationalstaates, hat ausgedient in einem System globalisierter Arbeitsmigration und flexibler globaler Produktionsketten. Rassismus ist hier teils sogar hinderlich. Gleichzeitig vertieft sich aber die Spaltung zwischen Kapital und Arbeit massiv, da die an Nationalstaaten gebundenen erkämpften Kompromisse und sozialen Fortschritte mit dem Nationalstaat zusammen erodieren. Die Außerkraftsetzung dieser Kompromisse muss dabei sogar als zentrales Anliegen der neuen 'regelbasierten' Ordnung des Kapitals begriffen werden. Kann die Mehrwertabschöpfung, der Gewinn, doch nur erhöht werden, bei Reduktion der Arbeitskosten.

Das heißt weder die Ukraine/NATO, noch Russland kämpfen für die Befreiung der Menschen. Ob die Unterdrückung organisiert ist in der alten Ordnung der Nationalstaaten oder der neuen 'regelbasierten' Ordnung des globalen Kapitals, ist egal, es gilt weiter die Grenzen verlaufen nicht zwischen Ländern oder Machtblöcken, sondern zwischen Unten und Oben. Befreien müssen wir uns selber!

Dies setzt aber heute mehr denn je den solidarischen Kampf über künstliche Grenzen von Geschlecht, Rasse, Nation u.a. voraus. Die Spaltung hilft nur den Herrschenden.


Originaltext der LumpenpazifistIn — Hannover, 2023




Endnote

(1) — Die Realität im hier und jetzt sieht aber anders aus, leider wird immer noch viel in dieser Gesellschaft durch Zuweisungen aufgrund Hautfarbe, Geschlecht, Geburtsort. u.a. bestimmt. Deshalb sind im Hier und Jetzt auch Maßnahmen sinnvoll, die Benachteiligungen aufgrund solcher Zuweisungen, aufgrund Hautfarbe, Geschlecht, Geburtsort. u.a. entgegenwirken. Zentral ist aber dabei nicht das Ziel aus den Augen zu verlieren. Für jede identitäre Politik, auch einer die erst einmal aus einer Position der Unterdrückung formuliert wird, besteht das Risiko selbst zum Instrument der inadäquaten Zuweisung zu werden, und z.B. Frauen, Weißen oder Schwarzen bestimmte Wesensmerkmale zuzuweisen. Solche neuen Identitätspolitiken sind, sobald sie anderen Menschen vorzuschreiben versuchen, wie sie zu sein haben oder gar was sie sind, nicht weniger gewaltsam und menschenverachtend wie die Politiken, die sie bekämpfen. Der Weg darf nicht langfristig das Ziel kontakarieren. Zu berücksichtigen ist dabei, dass jede konkrete Politik im Hier und Jetzt, einer zutiefst von Herrschaftsverhältnissen durchdrungenen Gesellschaft, mit internen Widersprüchen wird leben müssen. Insofern müssen Politiken, die zeitweise Identitäten stärken, nicht automatisch falsch sein. Voraussetzung ist aber, dass das Ziel dadurch nicht aus dem Blick gerät und der Widerspruch bewusst und zeitlich begrenzt eingegangen wird.




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Aktualisiert 30.04.2023